LITERATUR BESTEHT AUS NICHTS ALS BUCHSTABEN


Kaum eingetreten in das pittoreske Haus am Ammersee, klingelt ein Telefon, Zeit für das tägliche Gespräch mit dem Freund Famadou Don Moye. Der schwarze Musiker ruft aus Marseille an, er ist der andere Teil des „Duo infernal“, das Hartmut Geerken mit ihm zusammen bildete. Jazzmusiker, Autor, Literaturwissenschaftler, Maler, Filmemacher, die Reihenfolge ist eigentlich egal, heute geht es aber um Literatur, aber auch wieder nicht nur, denn er ist ein Grenzgänger, der die Ränder der Künste immer aufs Neue vermisst und vermischt. So hat Poesie für ihn auch immer etwas Phonetisches und Visuelles. Nicht im dem Sinne, das Gedichte vorgetragen und in aparten Lettern gesetzt werden, das sei geschenkt. Vielmehr im Sinne der „Konkreten Poesie“, die Sprache als Material begreift. Sprachskepsis, ja, da nickt er, Sprachexperiment, nein, da schüttelt es ihn. Er mag das Wort nicht. Nach der Verhunzung der Sprache durch die nationalsozialistische Ideologie, nach Lug und Trug, wollte man nach dem Krieg der Sprache auf den Grund kommen. Dafür stehen Namen wie die „Wiener Gruppe“, Eugen Gomringer, Ernst Jandl, Helmut Heißenbüttel und eben Hartmut Geerken. Keine auf den deutschsprachigen Raum begrenzte Erscheinung, beileibe nicht, konkrete Poeten tauchten überall auf, in Europa, in den USA, in Kanada, in Brasilien, und sie alle trafen sich über 25 Jahre lang einmal im Jahr in: Bielefeld. Auf Initiative der Literaturwissenschaftler Jörg Drews und Klaus Ramm. Das Kolloquium für Neue Poesie entwickelte sich zu einem frühen Medienereignis mit beachtlicher Öffentlichkeit. Lesungen in großen Hallen, in der Universität oder in der Stadt, nicht auf Kleinkunstbühnen. Einmal fand das Treffen sogar in Athen statt. Als Leiter des dortigen Goethe-Institut fand der rührige Schwabe Mittel und Wege, seine Getreuen um sich zu scharen. Zuvor hatte der studierte Orientalist die Institute in Kairo und Kabul geleitet, immer die Begegnung mit örtlichen Künstlern suchend, gemeinsam musizierend, gemeinsam schreibend. So wie im (Free-)Jazz musikalische Strukturen dekonstruiert werden können, werden in seinen Texten narrative Strukturen getilgt:
„ich suche sätze oder erfinde mir solche, die außerhalb eines sinnzusammenhangs in sich schlüssig sind (…) sätze, die aus eine, beliebigen kontext herausgelöst werden & trotzdem eine starke energetische qualität haben (…) sätze, die so viel aura besitzen, dass ein zusammenspiel oberhalb von grammatischen regeln oder der sogenannten richtigen orthografie beziehungsweise folge der wörter gegeben ist.“
Ein Beispiel aus „klafti über die einsilbigkeit“ (WAITAWHILE 2007):

der see des ruses tee des
zähls des ers mir tee des
heus dass er 2 fee des
köps des gens des ziehs
mit reis kocht des gees bee
des
hass

Konkrete Poesie hatte in den 70er bis 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hohe Konjunktur. Die Mühen konzentrierter Rezeption der anarchischen Texte wurden aber vielfach überlagert von vermeintlichen humoristischen Intentionen. Aus heutiger Sicht und überspitzt gesagt nahm man Jandl et alii als Comedians wahr, was sie nicht sein wollten. Folgerichtig kam der Rückzug aus der Öffentlichkeit, das Vergessen. Bei Geerken in der Form, das er dem Literaturbetrieb den Rücken kehrte, bei allerdings ungebrochener Produktivität. Zur Rettung verfasst er dicke, unlesbare Bücher, wie er anmerkt, die erschienen zwar immer noch, aber in kleinen Stückzahlen von 25 Exemplaren für 600 Euro, sozusagen Sammlerstücke, zumeist im Hybriden-Verlag von Hartmut Andryczuk in Berlin. Dazu passt die Tätigkeit als Herausgeber der Werke des jüdischen Philosophen und Autors Salomo Friedlaender, Künstlername Mynona, die inzwischen auf 30 stattliche in gelb gehaltene Bände angewachsen ist oder seine Autobiografie, „Hart im Raum“, alles im Selbstverlag „WAITAWHILE“. Seinem Prinzip „Found Footage“ bleibt er auch hier treu. Äußerlich ungeordnet erscheinende Erlebniscluster, phonetische Explosionen, akustische Erkundungen, messen Literatur an musikalischen und malerischen Maßstäben. Aus zerfallenden Ordnungen entstehen neue Strukturen. Er sieht sich als Texthauer, Satzmetz, Wortschnitzer.
Prinzipien, die auch für seine Hörstücke gelten, von denen er im Laufe der Jahre nicht weniger als 21 für den Bayerischen Rundfunk geschaffen hat.

Gibt es ein Fazit nach 81 Jahren? Vielleicht ist es dieser Satz:
„wenn ich einen schoß hätte, könnte ich träumend sagen, es ist mir alles in den schoß gefallen. Ich habe nie klinken geputzt.“

Bernd Zabel


EIN REPOMAN IN AFRIKA

Ein Repo-Man in Afrika

Eine amour fou, eine hübsche Erbschaft und ein erfüllter Traum: das sind die Hauptbestandteile des Romans „Mondbeben“ von Ludwig Fels. Oder sollte man statt Roman besser sagen: eines bösen Märchens: „Vielleicht war die Welt nur ein schlechter Traum, und vielleicht liebte der Mensch deshalb besonders die grausamen Märchen“. Das Unheil beginnt, wie so oft, mit einem Fund im Internet. Das Paar, Olav und Helen Ostrander, hat allen Grund, Deutschland den Rücken zu kehren. Olav kommt aus einer leicht anrüchigen Branche, er war Schuldeneintreiber, ein Repossessionman, kurz Repo-Man, wie es im Amerikanischen heißt. Dass man in diesem Business schon mal zu härteren Bandagen greifen muss, kommt ihm zustatten, als er seine Nachbarin vor ihrem rasenden Ehemann rettet. Das vergisst ihm Helen nicht und heiratet Olav noch in der Haft, die er wegen schwerer Körperverletzung antreten muss. Wieder auf freiem Fuß, erwartet sie ein Geschenk des Himmels in Gestalt einer hübschen Erbschaft. Da kommt ein Angebot gerade recht, das einen Neuanfang verheißt, unter Palmen, in einem weißen Haus am Meer, gelegen auf einer tropischen Insel. Das lässt sich zunächst gut an: der Immobilienmakler von der „Hidden Pearl Resort Company“ höflich und zuvorkommend, das Hotel „Rosemilk“ einladend. Die Baranzahlung, schwarz ins Land gebracht, wird mit einem Vorvertrag besiegelt. Doch der erste Eindruck täuscht. Es brodelt in dem ungenannt bleibenden afrikanischen Land. Hinter der Postkartenidylle Müllberge, marodierende Kinderhorden, eine raffinierte Prostituierte, ein brutaler Polizeichef, der dem einstigen ugandischen Diktator Idi Amin in nichts nachsteht. Fels lässt die Ereignisse eskalieren. Die Warnzeichen werden zum Menetekel, die Protagonisten zeigen ihre häßlichen Gesichter, zumal Olav immer munter dagegen hält. Schließlich bleibt er sogar allein zurück, mit einem massiven Alkoholproblem in der leeren Villa am Meer. Eine üble Augenverletzung, die ihr auf kuriose Weise zugefügt wurde, zwingt Helen zur Rückkehr nach Deutschland. Die Situation kippt vollends, als politische Unruhen ausbrechen. Olav wird zum Spielball der korrupten Clique. Er überlebt nur, weil man ihn weiter melken will. Im Sauseschritt biegt der Roman jetzt auf die Zielgerade ein, mit einem zünftigen Finale, das aber hier nicht verraten werden soll.
„Mondbeben“ , ein lohnender Thriller also? Das Buch lässt sich so lesen, weist aber einige Ungereimtheiten auf. Der Plot ist gradlinig, unterbrochen nur von den Passagen, die über das Vorleben Helens und Olavs aufklären. Diese Paar ist allerdings arg blauäugig und die Einheimischen entpuppen sich allesamt als finstere Gesellen. Das ist schwarz-weiß gezeichnet, wie auch die Dialoge hart, direkt und lakonisch daherkommen, ohne Rücksicht darauf, wer da mit wem spricht. Der Spannung tut das aber keinen Abbruch, im Gegenteil.

Fragen kann man sich aber, welche koloniale Geschichte „Mondbeben“ eigentlich erzählt. Immerhin passiert das Paar wiederholt ein Denkmal am Fährhafen, das an die dunklen Zeiten des Sklavenhandels erinnert. Eingelassen in eine Grube, ist dort eine Schar von Tonfiguren mit echten Ketten für den Abtransport zusammengepfercht. Die Grube voller Abfall, die Figuren verunstaltet. Olav unternimmt sogar einen zaghaften, eher unbewussten Versuch, eine Figur wiederherzustellen. Aber da hat er schon eine ganze Kette unheroischer Zwischenfälle und Fehlleistungen hinter sich. Er ist nicht der Typ, der seine Rolle in der Abfolge von Situationen des Scheiterns reflektieren und kulturelle Missverständnisse aufspüren könnte. Wenn Fels diesen Konflikt stärker herausgearbeitet hätte, wäre es ein anderes Buch geworden.

Der gebürtige Franke Ludwig Fels, schon lange in Wien lebend, hat einen weiten Weg zurückgelegt. In seinen politischen Anfängen, als zorniger junger Mann, ernannte ihn die Kritik zum Arbeiterschriftsteller. Das war in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Danach hat er in vielen Genres Erfolge errungen, im Hörspiel, auf dem Theater, als Lyriker und Erzähler. Ein belesener Autor, der eingangs Ovid, Büchner und Goethe zitiert: „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.“

Bernd Zabel

Ludwig Fels, Mondbeben, Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2020

Steinige Wege

Flüchtlinge hinter Zaun

Verfolgt, vertrieben, ihrer Sprache enteignet – wie es Autorinnen und Autoren im Exil ergeht

Gestern noch in der Öffentlichkeit, am nächsten Tag im Versteck, dann die Verhaftung oder heimliche Flucht gegen hohe Schmiergeldzahlung. So erging und ergeht es zahlreichen Autor*innen weltweit. Viele, denen die Flucht gelang, landeten in Deutschland.

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Rezension: Bayern, der Bolschewik geht um!

Grabstein Kurt Eisner

Günther Gerstenbergs Anmerkungen zum Umsturz und den Räterepubliken 1918/19

Der Schriftsteller, Historiker und Künstler Günther Gerstenberg ist in München kein Unbekannter. Als Angehöriger der 68er Generation war er in den 80er Jahren an der Gründung des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung beteiligt und arbeitet an dem neueren Projekt „Protest in München von 1945 bis in die Gegenwart“ mit.

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Rezension: Es muss nicht immer Brexit sein

Tiny Stricker

Oder: Liebeserklärung an ein Land

Eingeweihten ist er schon seit Langem bekannt, der Münchner Autor Tiny Stricker. Nach musikalischen Anfängen in der Band „Siloah“ und nach bewegten Hippie-Zeiten, die ihn auf dem Landweg bis nach Indien führten, kehrte er doch immer wieder nach München zurück, auch um das Notierte in Buchform zu gießen.

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Spanien im Herzen

Instituto Cervantes, München

Literatur im spanischen Kulturinstitut – das Instituto Cervantes

Die Lage könnte besser nicht sein, zwischen Staatsoper, Akademie der Wissenschaften und Max-Planck-Institut, ein Filetstück in bester Innenstadtlage. Benannt nach dem wohl bekanntesten spanischen Autor, Miguel Cervantes, bietet das spanische Kulturinstitut nicht nur eine Bibliothek, hochwertige Sprachkurse auf allen Niveaus, sondern auch ein vielfältiges Kulturprogramm.

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Rezension: Was geschah vor 100 Jahren?

Herbert Kapfer

Herbert Kapfer collagiert in seinem Buch „1919“ Originaltexte, Zitate und Fotos aus der Zeit zwischen 1918 und 1938.

Jahresanfang 2019, vor 100 Jahren wurde die Münchner Räterepublik ausgerufen, und es vergeht zur Zeit kaum ein Tag, an dem Interessierte in dieser Stadt nicht eine Veranstaltung besuchen könnten, die mit dem Jahrestag zusammenhängt.

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Schillernd und rätselhaft: eine Unzeitgemäße

Ilse Schneider-Lengyel

Dass die Spuren Ilse Schneider-Lengyels nicht gänzlich getilgt sind, verdankt sich einer glücklichen Fügung. Nach ihrem Tod im Jahr 1972 finden sich in ihrem aufgelassenen Haus am Bannwaldsee bei Füssen verstreute Dokumente, die schließlich in den Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek gelangen.

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