Kann man von einem Trend sprechen? Eine stetig wachsende Zahl von Graphic Novels, die 2013/14 erschienen sind, hat biografischen, mitunter sogar autobiografischen Charakter. Reinhard Kleist, Uli Lust, Mawil und nun auch Barbara Yelin mit „Irmina“. Yelin hat sich von der Geschichte ihrer Großmutter zu einer großartigen Bilderfolge inspirieren lassen.
Irmina geht – die Nazis sind gerade an die Macht gekommen – 1934 als 19-Jährige nach England, um sich zur Fremdsprachensekretärin ausbilden zu lassen. Sie ist ein sprödes Mädchen, das sich nicht leicht integriert und ihre Probleme mit dem britischen Humor hat. Allerdings hat man es als Deutsche zur Zeit des aufkommenden Faschismus auch nicht gerade leicht in London. Sie versucht ihr Land da zu verteidigen, wo es schon lange nichts mehr zu verteidigen gibt und eckt damit an.
Nur in Howard, einem schwarzen Studenten aus Barbados, lernt sie einen vermeintlichen Leidensgenossen kennen. Die beiden verstehen sich. Es kommt zu einer vorsichtigen Annäherung. Man trifft sich in Oxford, wo Howard studiert. Doch dann verschärft sich die politische Lage, die Zahlungen aus Deutschland bleiben aus. Irmina will nur ganz kurz zurück, um das Finanzielle zu regeln und kehrt dann doch nie mehr nach England zurück.
Im zweiten Teil findet sie sich in Berlin, einer Stadt, die 1939 ganz im Zeichen der NS-Machtentfaltung steht. In immer mehr Bildern ohne Text drückt die Autorin die allgemeine und auch Irminas Sprachlosigkeit aus. Anstelle von Kapitelüberschriften setzt sie ausdrucksstarke Doppelseiten, die Übersicht bieten, aber auch Einschnitte markieren. Die aquarellierten Bleistiftzeichnungen entfalten einen ganz eigenen Reiz, lassen pointierte Gesprächsszenen und einprägsame Bilder ineinander fließen. Was mit den November-Pogromen 1938 begann (ein Bild zeigt den Brand der Synagoge Fasanenstraße in Berlin), bricht sich weiter Bahn. Die Mehrzahl der Deutschen schaut unbeteiligt zu, nur selten erhebt sich eine kritische Stimme. Verharmlosend ist von „Kristallnacht“ die Rede. Der aktive Prozess des Nichtwissenwollens breitet sich aus.
In dieser Situation lernt Irmina Gregor kennen, einen idealistischen, den Nazis treu ergebenen Architekten. Über ihn findet sie Arbeit als Sekretärin in einem Ministerium. Zuvor noch freigestellt, geht Gregor spät an die Ostfront, wo er bald fällt. Irmina, inzwischen Mutter eines Sohnes, flüchtet zum Kriegsende mit ihm aus Berlin aufs Land, nach Bayern. Hier nimmt die Geschichte dann noch eine unvorhersehbare Wendung.
Barbara Yelin hat diesen Stoff lange mit sich herum getragen, hat die Familiengeschichte gekonnt mit historischen und psychologischen Recherchen verwoben. „Irmina“ zeigt auf eine sehr eigene Weise eine dunkle Zeit, erfreulicherweise frei von Vorurteilen und ideologischen Scheuklappen.