Ein Forum für die Dichtkunst

Der legendäre österreichische Dichter H. C. Artmann zählte vor 25 Jahren zu den Ersten, heute – im Jahr 2014 – nähert man sich der Marke von 1.000 Lesungen. Eine fantastische Bilanz im Dienste der Poesie. Die Rede ist vom Lyrik-Kabinett München, einer Institution, die noch mit anderen Superlativen aufwarten kann.

Das Haus beherbergt die größte Sammlung von Lyrikbänden deutschlandweit und die zweitgrößte in Europa.

Möglich gemacht werden diese Superlative durch das langanhaltende Engagement einer Stifterin, die sich auch von Widrigkeiten nicht verdrießen ließ und heute auf ein großartiges Lebenswerk blicken darf. Die nimmermüde Ursula Haeusgen begrüßt dieser Tage mit Holger Pils den neuen Geschäftsführer des Lyrik-Kabinetts. Der promovierte Germanist verließ den Norden, das Buddenbrookhaus Lübeck, um in München ein Haus mit einem weiten Spektrum zu übernehmen. Gleichrangig werden deutsche und internationale Werke präsentiert, wird die Gegenwartspoesie wie die Tradition gepflegt. Beides verbinden möchte Pils mit einer neuen Reihe, in der junge Dichter ältere Kollegen, die ihnen wichtig sind, vorstellen.

Lyrisches Quartett und Spoken Word

Beibehalten wird ein Format, das bei Literaturbegeisterten sofort Assoziationen weckt: das Lyrische Quartett. Heinrich Detering, Präsident der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Harald Hartung, Professor für Literatur – beide auch selbst Lyriker – sowie ein wechselnder prominenter Gast nehmen sich unter der kundigen Gesprächsleitung von Kristina Maidt-Zinke (Süddeutsche Zeitung) vierteljährlich Neuerscheinungen vor oder unterziehen Bekanntes einem Haltbarkeitstest.

Wiederaufleben lassen möchte Pils die „Reden zur Poesie“. Im Herbst 2014 wird kein Geringerer als Michael Krüger diese schöne Tradition fortsetzen. Auf den ehemaligen Hanser-Verlagschef geht auch die Edition Lyrik-Kabinett zurück, die seit 2006 bei Hanser erscheint.

Wer jetzt meint, bei so viel Betonung von Traditionen einen Hauch von steifer Akademiestimmung zu verspüren, kann beruhigt werden. Wenn die Plattenteller rotieren und Sprache musikalische Qualitäten bekommt, dann sind die Spoken Word Künstler von „Poetry in Motion“ in Aktion. Auch talentierte Debütanten erhalten hier monatlich die Chance, sich einem keineswegs nur jungen Publikum zu präsentieren, so wie auch umgekehrt bei den Lesungen durchaus junge Leute zu entdecken sind.

Begegnung mit dem Gedicht

Sicher trägt auch die Atmosphäre der Location ihren Teil bei: Ist doch der Besucher im Lyrik-Kabinett rundum von Lyrikbänden umgeben. Regale reichen schon bis zur Decke und jährlich kommen circa 2.000 Bände hinzu – zwischen denen ausgewählte und rare Buchkunstobjekte, Künstlerbücher, Zeichnungen und Karikaturen hervorstechen.

Für weitere Projekte ist man Allianzen mit Partnern eingegangen. Ein Festival für Poesieverfilmungen wird in Kooperation mit der Medienakademie München entwickelt. Besonders am Herzen liegt Haeusgen und Pils jedoch die Arbeit in Schulen. Um dem weit verbreiteten Desinteresse an Lyrik abzuhelfen, muss man ihrer Überzeugung nach die direkte Begegnung mit dem Gedicht möglichst früh fördern. Unter dem Titel „Lust auf Lyrik“ gehen deshalb junge Autoren in die Schulen. Dann wird in einer 9. Klasse schon einmal Wanderers Nachtlied ins Türkische und ins Arabische übersetzt. Und die Schüler fassen Mut, Gedichte auch auf Deutsch zu schreiben.

Und wenn es ganz besonders gut läuft, zählen sie später zu den jährlich über 1.300 Nutzern der öffentlich zugänglichen Sammlung. Fragt man Holger Pils vor dieser Kulisse nach der Zukunft, so kann die Antwort nur optimistisch ausfallen: „Die beglückende Erfahrung des Lyriklesens ist zwar schwer vermittelbar, wer sie aber einmal gemacht hat, wird sie nicht mehr missen wollen.“