Ein Lied singen, das mit einem unendlich langen Seufzer endet

Ein Porträt der Chamisso-Preisträgerin Marjana Gaponenko

Es klingt wie ein Märchen: eine Schülerin aus der Ukraine verliebt sich in die deutsche Sprache und beginnt Gedichte auf Deutsch zu schreiben.

Im Februar 2013, sechzehn Jahre später, erhält Marjana Gaponenko den renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis für deutsch schreibende Autoren nicht-deutscher Herkunft.

Der Preis, der auf eine Initiative des Romanisten Harald Weinrich zurückgeht, wird seit 1985 verliehen. Hinter dem Preis steht mit der Robert-Bosch-Stiftung eine der größten deutschen Stiftungen, die das Thema Völkerverständigung seit langem auf ihre Fahnen geschrieben hat. Nicht immer geht es dabei so dramatisch zu wie beim Namenspatron, der den Wirren der Französischen Revolution entkam, um in Berlin eine neue Heimat zu finden. Allen Preisträgern gemeinsam ist jedoch ein Sprach- und Kulturwechsel, der thematisch oder stilistisch ihr Werk prägt.

Marjana Gaponenko erhält den Preis für Ihren zweiten Roman „Wer ist Martha?“. Protagonist ist Lewadski, ein 96ähriger Wissenschaftler aus der Ukraine, genauer ein Ornithologe, der sein herannahendes Ende stilvoll in einem Wiener Luxushotel zelebriert. Dieser Lewadski ist nicht nur steinalt, er ist auch todkrank. Diese Attribute verschärfen einerseits das Dramatische, andererseits entziehen sie dem Drama seine Grundlage , indem gefragt wird: Lohnt es sich als todkranker Greis zu kämpfen und wenn ja, dann wofür? Für die Selbstbestimmung in erster Linie und auf den zweiten Blick für mehr Hingabe und Gottvertrauen. Todkrank und fast hundertjährig begibt sich Lewadski auf seine letzte Reise. Er verbringt seine letzten Tage in der Atmosphäre eines wunderschönen, aber auch ziemlich unwirklichen Ortes. Am Anfang bewundert er das theatralisch Anonyme des Grandhotels , er genießt den Luxus, in dem er nie gelebt hat und nun sterben will. Er findet Freunde, er findet zu sich selbst und geht in Frieden. All dies wurde möglich aufgrund seines Aufbruchs, seiner Flucht an einen Ort, der im vollkommenen Gegensatz zu seiner Leidenschaft und seinen Forschungsobjekten steht: den Vögeln. Erst im Luxus wird ihm klar, dass sein bescheidenes kleines Leben schön war und viel heller leuchtet als der Glanz der Lüster und Goldrahmen des Wiener Luxushotels.
Marjana Gaponenko schreibt über Menschen, die unscheinbar und unauffällig vor sich hin leben, aber im Inneren reich an Wundern sind. Sie sucht das Alltägliche im Außergewöhnlichen und findet es überall. Selten trifft man eine Autorin, die so voller Zärtlichkeit und Verständnis mit ihren gewöhnlichen außergewöhnlichen Helden umgeht. Sie können Zwanzig sein und eine „alte“ Seele haben, oder sechsundneunzig Jahre alt wie Lewadski, der sich bis ins hohe Alter sein kindliches Gemüt bewahrt hat.

Marjana Gaponenko stammt aus Odessa, der legendären Stadt am Schwarzen Meer, man denkt an Eisensteins Treppe, an den großen Isaak Babel und an viele Andere, die den Ruf Odessas geprägt haben. Die Begeisterung für die deutsche Sprache erwachte früh, wurde ihr aber nicht in die Wiege gelegt. Der Vater Georgier, daher ihre dunklen Augen und tiefschwarzen Haare, die Mutter aus Odessa, als Aufnahmeleiterin in den Filmstudios der Stadt arbeitend. Aber es gab zwei Deutschlehrer im Gymnasium, eine alte Dame, die, trotz ihrer Strenge sehr warmherzig war, und einen Privatlehrer, der den Grundstein ihrer schriftstellerischen Karriere legte, indem er sie für den Unterricht Geschichten auf Deutsch schreiben ließ. Gelernt hat sie natürlich auch aus der Lektüre deutscher Literatur, vor allem aus Lyrikbänden. Und sie legt Wert auf die Feststellung, dass nichts so sehr zum Schreiben anregt, wie die Anverwandlung großer Autoren, deren Größe eben auch darin besteht, das ihre genaue Rezeption nicht zum Kopieren, sondern zum Selbstdenken und Schreiben führt.

Und ein weitere Zufall kam zu Hilfe: Der Journalist Moritz Senarclens de Grancy riet ihr bei einem Spaziergang auf Odessas Franzusski Boulevard , ihre Gedichte an einige ausgewählte Zeitschriften in Deutschland zu schicken, was sie auch tat. Die Gedichte wurden dann auch bald schon in der Zeitschrift „Muschelhaufen“ gedruckt.

Die Veröffentlichung blieb nicht folgenlos. Nach dem Erscheinen im Jahr 2001 traf eine Einladung ein: ein sechsmonatiges Literaturstipendium im Künstlerdorf Schöppingen bei Münster. Dass sie hier die zum Schreiben nötige Ruhe nicht fand, lag weniger daran, dass sie kurz zuvor ihren späteren Mann kennen gelernt hatte, als an der Rockgruppe, die ständig im Nebenhaus probte. Über Stationen in Dublin, Krakau und Frankfurt kam sie dann 2009 nach Mainz, wo sie bis heute lebt. In der neuen Umgebung wagt sie sich an die größere Form, ihren ersten Roman, dessen Vorgeschichte nicht weniger wundersam ist als das Personal ihrer Texte. Der Tourismusverband Vorarlberg hatte bei einigen Schriftstellern angefragt, ob sie eine kleine Geschichte über Lech am Arlberg schreiben könnten. Wer zustimmte, wurde nach Lech eingeladen und durfte eine Woche in einem Gasthof wohnen. Für sie war es erste Mal so hoch in den Bergen. Es entstand eine Geschichte, genauer, ein Brief des Journalisten Petrov an seine Liebe Anna Konstantinowna, die 2008 im Sammelband „Austern im Schnee“ erschien. Kurz darauf beschloss sie, eine Antwort an Petrov zu formulieren und schlüpfte dazu in die Rolle der alternden Dorflehrerin Anna Konstantinowna. Damit hatte das zweite Kapitel das Licht der Welt erblickt – die übrigen Kapitel waren dann nur noch eine Frage der Zeit. Als der Text fertig war, stellte sich auch das Gefühl ein, den lyrischen Schuhen entwachsen zu sein: „Ich habe nach wie vor Gedichte geschrieben, doch sie schienen mir alle auf einmal so kurzatmig, ich wollte singen, nicht einfach kurz aufseufzen, sondern ein richtiges Lied singen, ein Lied das mit einem langen unendlich langen Seufzer endet. Das ist meine Vision von der Prosa, die ich schreibe. Sie soll lange nachhallen und ihrem Wesen nach der Lyrik trotzdem sehr nah sein. Das ist mir wichtig.“
Piotrs erster Brief wurde, nachdem er im Sammelband „Austern im Schnee“ erschienen war, mit dem österreichischen „Frau Ava Literaturpreis“ ausgezeichnet. Die Preisverleihung fand 2009 in einer ominösen Bergkirche statt, in der die erste Dichterin deutscher Zunge begraben liegen soll. Zur Preisverleihung kam ihr damaliger Verleger, Herwig Bitsche, und ermunterte sie bei einem Glas Wein unter einem Kastanienbaum dazu, mehr daraus zu machen. Ein Jahr später erschien dann der Roman „Annuschka Blume“ im Residenz-Verlag Salzburg.

Am 28. Februar wird Marjana Gaponenko wieder in einer Kirche, diesmal in der sehr viel größeren Allerheiligen-Hofkirche, die zum Ensemble der Münchner Residenz gehört, glücklich ihren zweiten Preis entgegennehmen. Rückblickend, sagt sie, erscheint alles wie eine Kausalkette: ein Roman nach dem anderen, zwei tolle Preise. Man könnte von Fügung reden, wenn nicht klar wäre, dass hinter jedem Schritt viel harte Arbeit steckt. Viel Herzblut und viel Zeit. Für die Preisverleihung wird sie die Arbeit an ihrem neuen Buch kurz unterbrechen müssen. Darin geht es um eine Geschichte, die in einer Kutsche spielt. Sie handelt von Möbeln, Bäumen und Geschichtsphilosophie, es geht um Zeit und Physik und um eine neue Kinderpädagogik, die ein beinloser Kriegsveteran auf die Beine stellt, es geht um Besitz und Besitzlosigkeit und um die Freiheit. Hauptsächlich um die Freiheit.

Ist sie tatsächlich so rastlos? Der Eindruck, sollte er erweckt worden sein, täuscht: „Ein Grund, warum ich so gerne Literatur schreibe, ist, weil ich mich nicht nur für die Literatur interessiere. Ich glorifiziere sie nicht. Ich finde, dass es entscheidend wichtig ist, das Herz für etwas frei zu halten, was mit dem Beruf, den man ausübt, nichts zu tun hat. Für das Andere eben. Man kann kein guter Schriftsteller sein, wenn man die Literatur zum Mittelpunkt seines Lebens macht. Hat man die Augen nur für die sie, so ist man von Blindheit geschlagen. Ich kann mir vorstellen, dass ich mit Sechsundneunzig, wenn ich schriftstellerisch alles gesagt habe, eine Schreinerlehre mache und eines der wunderbaren Handwerke erlerne, für das ich aufrichtige Sympathie hege.“