Eine Anarchistin auf der Buchmesse

25.000 € gibt es für den Gewinn des Deutschen Literaturpreises, der seit nunmehr 10 Jahren zum Start der Buchmesse vergeben wird. Finanziert wird der Preis von der Deutschen Bank. Klar, wir sind in Frankfurt. In diesem Jahr hieß der Glückliche Lutz Seiler, mit „Kruso“, einem Buch, das noch einmal die Wendezeit, DDR 1989, heraufbeschwört.

Die sechs Nominierten auf der Shortlist bekommen für ihr Mitspielen passenderweise eine Null weniger, also 2.500 €. Da sie normalerweise nicht wissen, wer von ihnen den Preis einheimst, lohnt es sich auf jeden Fall im Schlepptau von Verlagsvertretern und Journalisten im Frankfurter Rathaus, dem berühmten „Römer“, aufzukreuzen. Aufregend und spannend wird es allemal. Grund genug, diese Situation mit Vor- und Nachläufen zum Thema eines Romans zu küren. Auf der Longlist stand mit „Nachkommen“ von Marlene Streeruwitz ein Roman, der genau das getan hat. Streeruwitz „alter ego“, Nelia Fehn, die nach ihrer Mutter gerade ihren geliebten Opi zu Grabe getragen hat, reist voller Hoffnung von Wien nach Frankfurt und malt sich aus, was sie mit 25.000 € so alles anfangen könnte. Zum Beispiel eine medizinische Behandlung finanzieren. Ihr griechischer Liebster Marios ist mit Trümmerbrüchen in beiden Fußgelenken ans Haus gefesselt, nachdem ihm ein Polizeiwagen über die Füße gefahren ist.

Marlene Streeruwitz schickt ihre Hauptfigur auf eine abenteuerliche Reise und übernimmt selbst ihre Rolle

Als Kind einer erfolgreichen Autorin wünscht sie sich natürlich auch, aus Mamis Schatten herauszutreten. Aber so einfach ist das alles nicht. Die gutaussehende Debütantin, mit Abstand jüngste Nominierte in der Geschichte des Preises, wird von Ängsten gepeinigt, obwohl sich ihr ältlicher Verleger nach Kräften bemüht, solche zu zerstreuen. Der aber muss sparen. Ein Taxi ist nicht drin, als Unterkunft ist eine Billigpension im Bahnhofsviertel vorgesehen. Entsprechend herb fällt die Schilderung der Stadtansichten Frankfurts aus. Die Protagonistin kämpft ständig mit Befindlichkeiten wie Hunger, Durst, Kälte und Übelkeit und muss feststellen: „Unglück ist immer kumulativ.“

Und erst der Literaturbetrieb. Nachdem ihr der Preis versagt bleibt, den stattdessen eine sympathische Autorin aus dem Osten erhält, folgen zwar noch einige Interviews, Fototermine und ein Auftritt am Stand des Kulturkanals 3sat. Aber alles läuft aus dem Ruder. Interviews arten zu Verhören aus, Bemerkungen wie „Eine hübsche kleine Odyssee haben Sie da geschrieben“, schmerzen tief. Zu allem Überdruss lässt Streeruwitz Nelia auch noch auf ihren leiblichen Vater treffen, Rüdiger Martens, emeritierter Professor für französische Literatur und Grandseigneur der literarischen Szene, dessen Existenz ihr die Mutter mit guten Gründen verheimlicht hatte. Aus diesen Verwicklungen läst sich Nelia schließlich mit ihrer Flucht, nicht zurück nach Wien, auch nicht nach Athen, sondern ins British Museum in London, wo sie Bilder betrachtend zur Ruhe kommt.

Clou der Geschichte aber ist, dass Steeruwitz unter dem Pseudonym Nelia Fehn diesen Roman unter dem Titel: „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ nun tatsächlich ebenfalls veröffentlicht hat. Beide Bücher sind beim S. Fischer Verlag erschienen. Geschickt spielt sie mit einer Leseerwartung, die in „Nachkommen“ einen Schlüsselroman vor sich sieht, so nach der Art: Autorin erfindet sich eine junge Debütantin, um sich ihre eigenen Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb von der Seele zu schreiben. Marlene Streeruwitz übernimmt stattdessen die Rolle ihrer Heldin Nelia Fehn. Was in „Nachkommen“ nur angedeutet wird, findet sich hier erzählerisch ausgeführt. Nelia, die eigentlich im Ökoresort ihrer Halbschwester auf Kreta überlegen wollte, wie ihr eigenes Leben nach dem Abitur weitergehen soll, gerät auf der Reise zu ihrem Geliebten Marios in einen Strudel von Verlusten und krisenhaften Verstrickungen. Nelia Fehn will, dass alle wissen, was es heißt, mit den Folgen der nationalen und internationalen Katastrophen leben zu müssen. Deshalb schreibt sie es auf. Sie ist eine von jugendlichem Furor getriebene Gerechtigkeitsfanatikerin, der es darum geht, die „Verschwörung zur Besitzstandswahrung der Eliten“ aufzudecken. Und sie leidet an der Vergeblichkeit der Proteste und der Wirkungslosigkeit der Gegenmaßnahmen. Auf einmal wird ihr „Leiden an Frankfurt“ sehr plausibel.
Marlene Streeruwitz ist ein Doppelschlag gelungen und ein literarisches Kabinettstück. Prädikat: Absolut lesenswert.